Relative Wahrnehmung der Welt
Optische Illusionen zeigen, wie das Fliegenhirn Kontrast- und Bewegungsinformationen verarbeitet
Wird der Preis eines Produktes herabgesetzt, erhöht sich die Kaufbereitschaft – das Produkt erscheint preiswerter, obwohl es vielleicht immer noch zu teuer ist. Unsere Wahrnehmung der Welt ist somit oft relativ: Wir vergleichen, was wir sehen, mit einem Bezugspunkt – hier mit dem Preis vor dem Rabatt. Das Gleiche gilt für die Wahrnehmung von Helligkeitsreizen. Ein Objekt wirkt heller, wenn der Hintergrund dunkel ist, und dunkler, wenn der Hintergrund hell ist. Optische Täuschungen helfen, das Erkennen solch relativer Kontrastsignale zu analysieren. Was dabei jedoch auf zellulärer Ebene im Gehirn passiert, ist weitgehend unbekannt. Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried bei München haben nun durch Verhaltensexperimente an der Fruchtfliege Drosophila gezeigt, dass räumliche Kontrastinformationen und Bewegungsreize in unterschiedlichen Nervenzellschaltkreisen verarbeitet werden.
Optische Täuschungen gaukeln dem Betrachter etwas vor, das eigentlich nicht da ist. Dies ist jedoch kein Fehler unseres Sehvermögens. Die speziellen Bedingungen der Täuschung zeigen vielmehr, wie das Gehirn unsere Umgebung analysiert. Viele Effekte beruhen dabei auf relativer Wahrnehmung: Ein Objekt wirkt kleiner, wenn es in der Nähe von großen Objekten platziert wird, oder größer, wenn es von kleineren Objekten umgeben ist. Andere Illusionen basieren auf räumlichem Kontrast. Ein einheitlich grauer Balken vor einem Hintergrund mit Helligkeitsverlauf erscheint, als wäre die eine Seite des Balkens dunkler als die andere. Bewegungsillusionen täuschen dagegen Bewegung vor, wo keine ist. Wird der beschriebene graue Balken vor dem Hintergrundsverlauf beispielsweise dynamisch heller und dunkler, entsteht der Eindruck einer Bewegung. Diese Täuschung ist als Kontrast-Bewegungs-Illusion bekannt.
Um zu verstehen, wie das Gehirn die optischen Informationen verarbeitet, untersuchen Alexander Borst und seine Abteilung am Max-Planck-Institut für Neurobiologie einen Meister des Bewegungssehens, die Fliege. Basierend auf den bisherigen Erkenntnissen zum Bewegungssehen der Fliege sollten die Tiere auf Bewegungsillusionen wie die Kontrast-Bewegungs-Illusion nicht reagieren. „Das wollten wir natürlich genauer wissen“, sagt Armin Bahl, der Erstautor der im Fachmagazin Neuron erschienenen Studie. Für ihre Untersuchungen benutzten die Wissenschaftler eine ausgeklügelte Verhaltensapparatur: Befestigt an einem kleinen Haken läuft die Fliege, umgeben von einem künstlichen Panoramabild, auf einem schwebenden Styroporball. Die Bewegung des Balls zeigt die Laufrichtung der Fliege an. Dies lässt wiederum Rückschlüsse auf die Wahrnehmung der Tiere zu. Als die Wissenschaftler in diesem Versuchsaufbau die Kontrast-Bewegungs-Illusion testeten, waren sie überrascht: Fliegen reagierten sehr stark auf die Illusionen und nahmen eine vermeintliche Bewegung in die gleiche Richtung wahr, wie auch die menschlichen Betrachter.
Aufgabenteilung im Fliegenhirn
Um die neuen Erkenntnisse weiter zu untersuchen, schalteten die Forscher mit Hilfe eines genetischen Tricks die Zellen im Fliegenhirn aus, die für das Bewegungssehen zuständig sind. Solche Fliegen sind vollständig bewegungsblind, wie ein Verhaltensexperiment belegt: Wird eine Fliege von einem rotierenden Streifen-Zylinder umgeben, so drehen sich normale Fliegen mit der Bewegung mit – nach rechts, wenn sich der Zylinder nach rechts dreht, und nach links, wenn die Drehung nach links läuft. Dieses angeborene Verhalten von Fliegen und vielen anderen Tieren wird optomotorische Reaktion genannt. Sie hilft den Tieren, und auch uns Menschen, den Kurs zu stabilisieren und geradeaus zu fliegen oder zu laufen. Bewegungsblinde Fliegen zeigen dagegen keine optomotorische Reaktion.
Als die Wissenschaftler den bewegungsblinden Fliegen die Kontrast-Bewegungs-Illusion zeigten, fanden sie jedoch keinen Unterschied zum Verhalten von normalen Fliegen. „Das war ein wirklich überraschendes Ergebnis“, erinnert sich Armin Bahl. Die Wissenschaftler schlussfolgerten daraus, dass räumlicher Kontrast und Bewegungen in unterschiedlichen Gehirnregionen berechnet und verarbeitet werden. „Alles deutet darauf hin, dass das Fliegenhirn Gesehenes über verschiedene Nervenzellkanäle analysiert: Ein Kanal für Bewegungen, ein anderer Kanal für räumlichen Kontrast, und sicherlich weitere Kanäle für andere Merkmale der visuellen Umgebung“, fasst Armin Bahl zusammen. Auf die Frage, ob das auch beim Menschen so ist antwortet Alexander Borst „Sehr wahrscheinlich! Auch das visuelle System des Menschen ist hochgradig modular aufgebaut.“ Die vorliegende Arbeit über das Kontrast-Sehen der Fliege hilft somit zu verstehen, wie das Gehirn die verschiedenen Reize der Umwelt wahrnimmt und verarbeitet.
AB/SM