Die Rolle der Zeit bei der neuronalen Informationsverarbeitung
Lukas Groschner erhält ERC Starting Grant für die Erforschung zeitlicher Signalverarbeitung im Fliegenhirn
Das Gehirn von Fruchtfliegen kann visuelle Signale sowohl im Bereich von Millisekunden als auch mit Verzögerung von mehreren Minuten berechnen. Wie die komplexen neuronalen Schaltkreise im Fliegenhirn dies schaffen, will Lukas Groschner vom Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz entschlüsseln. Durch die Zusammenführung von Biophysik und Verhalten will der Forscher die molekularen Feinheiten und übergreifenden Mechanismen aufdecken, die diese Prozesse steuern. Das Projekt verspricht tiefgreifende Einblicke in die Rolle von Zeit in der neuronalen Informationsverarbeitung. Der Europäische Forschungsrat (ERC) fördert das Projekt mit 1,295 Millionen Euro.
Das Gehirn arbeitet auf ganz unterschiedlichen Zeitskalen. Es verarbeitet zeitliche Signale, die sich über ein Spektrum von mindestens neun Größenordnungen erstrecken. Diese reichen von kurzen elektrischen Impulsen, die lediglich Millisekunden andauern, bis hin zu zirkadianen Rhythmen und darüber hinaus. Die Prozesse an beiden Enden dieses Spektrums sind bereits gut erforscht. Dagegen ist über die Abläufe in dem dazwischenliegenden Zeitraum von einigen hundertstel Sekunden bis hin zu mehreren Minuten bislang wenig bekannt.
Diese Zeitspanne will Lukas Groschner aus der Abteilung von Alexander Borst in seinem Projekt "Temporal processing in Drosophila melanogaster" untersuchen. Der ERC fördert das Projekt mit einem Starting Grant von bis zu 1,295 Millionen Euro. Diese Förderung für vielversprechende Nachwuchswissenschaftler*innen wird jährlich vergeben, um besonders innovative Forschungsprojekte zu unterstützen.
Das Projekt basiert auf der Annahme, dass sich die Nervensysteme verschiedenster Tiere einer überschaubaren Anzahl gemeinsamer Schaltpläne bedienen. Einige dieser Schaltkreise ermöglichen es dem Gehirn, Signale über Zeitspannen von Hunderten von Millisekunden bis hin zu Minuten zu verzögern, zu akkumulieren und zu speichern. „Mein Ziel ist es, eine Brücke zwischen Biophysik und Verhalten zu schlagen,” sagt Groschner. „Ich hoffe, diese Schaltkreise so auf molekularer Ebene zu beschreiben und allgemeine Prinzipien zu entdecken, die ihrer Funktion zugrunde liegen".
Mit der Fruchtfliege Drosophila als Modellorganismus will der Forscher die Aktivitäten identifizierter Nervenzellen aufzeichnen und kontrollieren. Das Gehirn der Fliege enthält eine vergleichsweise kleine Anzahl von Nervenzellen und neuronaler Schaltkreise mit genau definierten Verbindungen. Dies macht es zu einem idealen Versuchsobjekt, um die zeitlichen Mechanismen der neuronalen Aktivität genau zu erforschen.
Das Projekt wird sich mit drei Fragen befassen: Die erste ist, wie Nervenzellen im visuellen System die Verzögerung von Signalen orchestrieren, um die Bewegungsrichtung visueller Reize zu berechnen. Die zweite untersucht die Fähigkeit, visuelle Informationen über einen Zeitraum zu akkumulieren, um darauf basierend verhaltensrelevante Entscheidungen zu treffen. Drittens fragt Groschner: „Wie konstruiert ein Gehirn ein Gedächtnis, das in Phasen der Immobilität stabil ist, aber während der Fortbewegung äußerst formbar ist und auf jeden einzelnen Schritt reagiert?"
Zusammenfassend zielt dieses innovative Forschungsprojekt darauf ab, die grundlegenden Prinzipien der neuronalen Informationsverarbeitung besser zu verstehen und zu ergründen, welche Rolle Zeit dabei spielt.