Sprosser: Territorialität außerhalb der Brutsaison
Studie beleuchtet das Zusammenspiel von Gesangsentwicklung und Territorialverhalten im Winterquartier
In ihrem Winterquartier in Tansania halten sich einige Sprosser-Männchen in unmittelbarer Nähe zueinander auf. Das ist ein auffälliger Kontrast zu ihrem Territorialverhalten während der Brutzeit in den gemäßigten Zonen. Forschende des Max-Planck-Instituts für biologische Intelligenz haben nun den Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Gesangs und des Revierverhaltens im Winterquartier der Vögel erforscht. Sie konnten zeigen, dass die jährliche melodische Entwicklung des Gesangs mit dem Territorialverhalten der Sänger verknüpft ist: Beides wird wahrscheinlich durch den Anstieg des Testosteronspiegels am Ende des Winters ausgelöst.
Das Bestreben, ein bestimmtes Areal zu kontrollieren, ist ein universelles Phänomen, das weit im Tierreich verbreitet ist. Die Verteidigung eines Territoriums beschränkt sich jedoch nicht allein auf physische Aggression. Während viele Haustiere ihre Reviere mit Duftmarken markieren, verteidigen andere Tiere ihr Territorium mit visuellen oder akustischen Signalen. Die meisten Vögel markieren und verteidigen ihr Territorium zum Beispiel mit Gesang!
Ein solcher Vogel ist der Sprosser, der den Winter in den Tropen verbringt und für die Brutzeit in gemäßigtere Zonen zieht. Singvögel, die das ganze Jahr über in Tropen leben, sind üblicherweise auch das ganze Jahr über territorial. Über die Rolle der Territorialität von Zugvögeln in ihren Winterquartieren ist dagegen wenig bekannt. Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, führte Henrik Brumm mit seinem Team über einen Zeitraum von fünf Jahren umfangreiche Feldstudien in Südtansania durch, dem Winterquartier vieler Sprosser.
Bei der Beobachtung der Sprosser in Afrika fiel den Forschenden die unmittelbare Nähe einiger Männchen zueinander auf. Dieses Verhalten steht im starken Kontrast zum äußerst territorialen Verhalten der Vögel während der Brutzeit, wo sich zwei Männchen niemals so nah nebeneinander niederlassen. Diese Beobachtung führte das Team zur Frage, ob Sprosser in ihrem Winterquartier überhaupt territorial sind und wie ihr Territorialverhalten mit der Entwicklung ihres Gesangs zusammenhängt.
Wie viele andere Vögel durchläuft auch der Sprosser jedes Jahr eine individuelle Entwicklung seines Gesanges: vom Vorgesang über den plastischen Gesang bis hin zur Kristallisation des Vollgesangs. Die Männchen durchlaufen diese Entwicklung jährlich und erreichen ihren voll ausgebildeten Gesang zu Beginn der Brutzeit. Im Verlauf der Phase des plastischen Gesangs entwickeln die Vögel die Struktur und Syntax ihres Gesangs, bis sich schließlich ihr endgültiger Gesang herauskristallisiert.
Mithilfe umfangreicher Experimente, wie der Messung der Abstände zwischen den Männchen und Playback-Experimenten, untersuchte das Team den Zusammenhang zwischen der Gesangsentwicklung und dem Territorialverhalten. Zu Beginn des Winters befanden sich alle Sprosser noch in der plastischen Gesangsphase. Diese entwickelte sich kontinuierlich, und als die beobachtete Population schließlich in ihre Brutgebiete aufbrach, hatte etwa die Hälfte aller Sprosser ihren Vollgesang erreicht. Interessanterweise ließen sich Vögel mit bereits voll entwickeltem Gesang nie in unmittelbarer Nähe zueinander nieder. Im Gegensatz dazu hielten sich Vögel im Stadium des plastischen Gesanges sowohl in der Nähe anderer Vögel im gleichen Gesangsstadium als auch von voll ausgeprägten Sängern auf. Bemerkenswerter Weise wurde territoriales Verhalten nur bei den voll ausgeprägten Sängern beobachtet, nicht aber bei den Vögeln im Stadium des plastischen Gesanges. Dies deutet auf einen Zusammenhang zwischen Gesangsentwicklung und Territorialität hin.
Ein entscheidender und aus verschiedenen Studien bekannter Faktor, der eine Verbindung zwischen der Entwicklung des Gesangs und dem Territorialverhalten herstellen könnte, ist das Hormon Testosteron. Neigt sich die Überwinterungszeit dem Ende zu, steigt der Testosteronspiegel und die Vögel gehen in die Brutphase über. Henrik Brumm erklärt diesen Prozess: „Steigende Testosteronwerte lösen sowohl die Gesangskristallisation als auch das Territorialverhalten aus. Erreicht ein Männchen schon vor dem Aufbruch in sein Brutgebiet einen so hohen Testosteronspiegel, wird es offensichtlich auch im Winterquartier territorial.” Das Team vermutet, dass das Alter der Vögel ein entscheidender Faktor sein könnte, warum manche Vögel schneller die volle Gesangsphase erreichen. „Obwohl alle Männchen die jährliche Gesangsentwicklung durchlaufen“, erklärt Teammitglied Léna de Framond, „sind junge Vögel wahrscheinlich langsamer in der Entwicklung ihres endgültigen Gesangs als ältere Vögel. Da sie sich noch in der Phase des plastischen Gesangs befinden, können sie sich näher an die ausgeprägten Sänger heranwagen - wodurch sie vielleicht auch neue Lieder von ihren älteren Nachbarn lernen können.“
Die Studie legt nahe, dass das Revierverhalten einiger überwinternder Sprosser eine Folge des steigenden Testosteronspiegels und der damit verbundenen Gesangsentwicklung ist. Da einige Vögel bereits vor ihrem Rückzug in die Brutgebiete territoriales Verhalten zeigen, ist eine spannende, nächste Frage, ob das Territorialverhalten auch einen adaptiven Zweck im Winterquartier der Vögel hat.
Letztlich verdeutlicht die Studie die dynamischen Verschiebungen zwischen territorialem und nicht-territorialem Verhalten innerhalb von Vogelpopulationen und bietet einen Einblick in das komplexe Geflecht der Siedlungsmuster der Tiere. Teammitglied Wolfgang Goymann fasst zusammen: „Unsere Ergebnisse eröffnen einen neuen Weg zum Verständnis des Vogelverhaltens, indem sie das Zusammenspiel von Gesang und Territorialität unterstreichen.“ Das Winterquartier, das einst als Zeit der Ruhe galt, entpuppt sich somit nun als Schauplatz komplexer Verhaltensweisen.