Weichenstellung im Gehirn
Studie zeigt, wie Proteine angehende Nervenzellen in spezialisierte Neurone umwandeln
Die Entwicklung des Gehirns ist ein äußerst komplexer Prozess, der zahlreiche aufeinander abgestimmte Schritte umfasst. Entscheidend ist dabei das zielgenaue Aktivieren bestimmter Gene. Ein Team um Christian Mayer vom Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz entschlüsselte hierbei nun eine entscheidende Funktion des Proteins MEIS2: Es aktiviert Gene, die zur Bildung hemmender Projektionsneurone notwendig sind. Diese Nervenzellen sind für die Bewegungskontrolle und Entscheidungsfindung unerlässlich. Außerdem wurde gezeigt, dass eine MEIS2-Mutation, die bei Patienten mit schweren geistigen Behinderungen bekannt ist, diese Prozesse stört. Die Studie liefert wertvolle Erkenntnisse zur Gehirnentwicklung und den Folgen von Genmutationen.
Nervenzellen sind ein Paradebeispiel für verflochtene Familienbeziehungen. Die Zellen, aus denen das Gehirn besteht, gibt es in Hunderten von verschiedenen Typen, die sich alle aus einer begrenzten Anzahl allgemeiner Vorläuferzellen – ihren unreifen "Eltern" – entwickeln. Während der Entwicklung wird jeweils nur ein bestimmter Satz von Genen in einer einzelnen Vorläuferzelle aktiviert. Der genaue Zeitpunkt und die Kombination der aktivierten Gene entscheiden darüber, welchen Entwicklungsweg die Zelle einschlagen wird. In einigen Fällen entwickeln sich scheinbar identische Vorläuferzellen zu auffallend unterschiedlichen Neuronen.
Diese Komplexität ist nicht nur verblüffend, sondern methodisch auch nicht leicht zu entschlüsseln. Christian Mayer und sein Team haben sich dennoch an diese Aufgabe gewagt (Diversitätsforschung im Gehirn). Gemeinsam mit Kolleg*innen aus München und Madrid haben sie nun ein weiteres Puzzlestück zum Verständnis der Entwicklung von Nervenzellen hinzugefügt.
Hemmende Zellbeziehungen
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchten die Bildung von hemmenden Neuronen, die den Neurotransmitter GABA produzieren. Diese Zellen sind bekannt für ihre große Vielfalt. Solche hemmenden Nervenzellen können im erwachsenen Gehirn lokal vernetzt vorkommen oder weitreichende Axone zu entfernten Hirnregionen ausbilden. Lokal verbundene "Interneurone" sind ein essenzieller Bestandteil der Schaltkreise der Großhirnrinde, wo sie die Nervenzellen miteinander verschalten. Weiter reichende "Projektionsneurone" sind hingegen vorwiegend in subkortikalen Regionen des Gehirns zu finden und tragen zu Verhalten im Zusammenhang mit Motivation, Belohnung und Entscheidungsfindung bei. Beide Zelltypen, Interneurone und Projektionsneurone, haben ihren Ursprung im selben Bereich des sich entwickelnden Gehirns. Von hier aus wandern die jungen Nervenzellen an ihren endgültigen Standort im Gehirn.
Mithilfe eines Barcoding-Ansatzes ist es Christian Mayer und seinem Team gelungen, die familiären Beziehungen zwischen Vorläuferzellen und jungen inhibitorischen Neuronen zu verfolgen. Sie entdeckten, dass ein Protein namens MEIS2 eine wichtige Rolle dabei spielt, wenn sich eine Vorläuferzelle für die Entwicklung hin zu einem Interneuron oder einem Projektionsneuron "entscheidet". Denn MEIS2 unterstützt die zelluläre Maschinerie dabei, die Gene zu aktivieren, die für die Verwandlung einer Vorläuferzelle zu einem Projektionsneuron erforderlich sind.
Ein Protein mit weitreichender Wirkung
Um diese Verwandlung zu ermöglichen, arbeitet MEIS2 mit einem anderen Protein zusammen, das als DLX5 bekannt ist. Fehlt MEIS2 oder funktioniert nicht zuverlässig, dann wird die Entwicklung von Projektionsneuronen gestoppt und aus einem größeren Teil der Vorläuferzellen entsteht stattdessen Interneuronen. Allerdings kann MEIS2 diese Aufgabe nicht allein bewältigen. „Unsere Experimente haben gezeigt, dass MEIS2 und DLX5 zur gleichen Zeit und in den gleichen Zellen zusammenkommen müssen“, erklärt Christian Mayer. „Nur die Kombination der beiden Proteine aktiviert alle notwendigen Gene, die die Entwicklung der Projektionsneuronen steuern.“
Die Bedeutung dieses Regelprozesses wird durch Berichte über eine MEIS2-Variante unterstrichen, die bei Patienten mit geistigen Behinderungen und einer verzögerten Entwicklung dokumentiert wurde. Aufgrund einer kleinen Veränderung im MEIS2-Gen wird ein leicht abweichendes Protein produziert. Das Team um Christian Mayer hat diese MEIS2-Variante in ihren Experimenten getestet und festgestellt, dass hier die für die Bildung von Projektionsneuronen benötigten Gene nicht aktiviert werden. „Dass diese MEIS2-Variante die Gene nicht aktivieren kann, die für die Bildung von Projektionsneuronen entscheidend sind, könnte zu den neurologischen Entwicklungsstörungen beitragen, die bei Patienten mit Mutationen im Gen dieses Proteins beobachtet werden“, erklärt Christian Mayer.
Der komplexe Steuermechanismus der Gene
Fasziniert von dieser Entdeckung, widmeten sich die Forscher*innen dem Mechanismus, durch den MEIS2 die Gene aktiviert, die für die Projektionsneurone benötigten werden. „Patienten mit MEIS2-Mutationen zeigen sehr unterschiedliche Auswirkungen, wie zum Beispiel Unregelmäßigkeiten bei den Zehen, gestörte Lungen- und Gehirnentwicklung oder auch geistige Behinderungen. Auf den ersten Blick haben diese Symptome nichts miteinander zu tun“, so Christian Mayer. „Dies zeigt, wie wichtig es ist, zu verstehen, dass Gene oft sehr unterschiedliche Aufgaben in verschiedenen Teilen des Körpers haben.“
Das Genom eines Organismus verfügt über Millionen von nicht-kodierenden, regulatorischen Elementen. Diese Elemente kodieren nicht selbst für Proteine, sondern wirken wie Schalter, die steuern, wann und wo Gene ein- und ausgeschaltet werden. „Sogenannte Enhancer fungieren als Dolmetscher für Proteinsignale in der Zelle. Wenn MEIS2 und DLX5 zusammenkommen, werden bestimmte Enhancer aktiviert. Diese spezielle Gruppe von Enhancern aktiviert wiederum Gene für Projektionsneuronen im Gehirn. In anderen Teilen des Körpers interagiert MEIS2 mit anderen Proteinen, was zur Aktivierung anderer Gruppen von Enhancern führt”, erklärt Christian Mayer.
In letzter Zeit haben groß angelegte Sequenzierungsstudien gezeigt, dass eine systematische und äußerst zuverlässige Identifizierung von Risikogenen bei neurologischen Entwicklungsstörungen möglich ist. Zukünftige Studien sollten sich daher auch auf die molekularen Interaktionen zwischen Proteinen konzentrieren, die von Risikogenen wie MEIS2 kodiert werden. Dies kann den Weg für ein umfassendes Verständnis der biologischen Mechanismen ebnen, die neurologischen Entwicklungsstörungen zugrunde liegen.