Finken in der Gesangsschule
Bei Zebrafinken fällt kein Meistersänger vom Himmel. Jeder Jungvogel muss zunächst eine Gesangsschule durchlaufen. Singvögel sind deshalb gute Modellorganismen dafür, wie Lernvorgänge im Tierreich ablaufen
Bei Zebrafinken fällt kein Meistersänger vom Himmel. Jeder Jungvogel muss zunächst eine Gesangsschule durchlaufen. Singvögel sind deshalb gute Modellorganismen dafür, wie Lernvorgänge im Tierreich ablaufen. Manfred Gahr erforscht mit seinem Team am Max-Planck-Institut für Ornithologie an verschiedenen Singvogelarten, wie diese ihren Gesang lernen und was dabei im Gehirn vorgeht.
Text: Tobias Herrmann
Vor den Toren Münchens, zwischen Starnberger und Ammersee, erstreckt sich das knapp 30 Hektar große Gelände des Max-Planck-Instituts für Ornithologie. Sogar einen natürlichen See gibt es dort. Neben den rund 2800 Zebrafinken, 500 Kanarienvögeln, Hühnern und Fischen arbeiten hier auch 170 Menschen.
In einem der über das Areal verstreuten Gebäude sitzt Manfred Gahr in seinem Büro im ersten Stock, einem großen lichtdurchfluteten Raum mit zwei Schreibtischen und einem offenen Kamin. „Der Raum diente früher als Wohnzimmer“, erklärt Gahr. Früher, das heißt, als Erich von Holst und der spätere Nobelpreisträger Konrad Lorenz 1954 das damalige Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie gründeten. Damals war es üblich, dass Wissenschaftler dauerhaft auf dem Forschungsgelände wohnen. „Anzünden darf ich ihn aber nicht mehr, seit er beim letzten Mal das ganze Haus in dichten Rauch gehüllt hat“, erzählt er.
Während seines Studiums an der Universität Kaiserslautern hatte Gahr die Wahl zwischen zwei Forschungsprojekten: Eines der Projekte befasste sich mit den weiblichen Geschlechtsorganen höhlenliebender Zwergspinnen, im Fachjargon den „Epigynen troglobionter Mikrophantiden“. Beim anderen ging es um die Erforschung von Vogelgesängen. „Unter letzterem konnte ich mir irgendwie mehr vorstellen“, sagt Gahr lachend. Und so untersucht er heute inmitten herrlicher Natur mit Hilfe moderner Technik, was im Gehirn eines Vogels passiert, wenn er seinen Gesang lernt.
Übung macht den Meister
Bei unseren einheimischen Arten singen zumeist die Männchen, Ausnahmen sind zum Beispiel Rotkehlchen und Star, bei denen auch die Weibchen aktiv sind. Dieser Gesang muss gelernt werden. Dem gegenüber stehen zum Beispiel die Warnrufe von Vögeln, die nicht erlernt werden, sondern angeboren sind.
Bei den aus Australien stammenden Zebrafinken singen nur die Männchen. Sie sind sogenannte „closed-ended Learner“, ihre Lernphase ist also begrenzt. Gut drei Monate hat ein Fink ungefähr Zeit, sich seinen Gesang anzutrainieren. Dann ist seine Schulzeit vorbei, und er singt das bis dahin Gelernte fortan für den Rest seines Lebens. „Man lernt nie aus“ trifft auf Zebrafinken also nicht zu.
Andere Arten wie der Kanarienvogel verfolgen eine andere Strategie: Er ist ein saisonaler Lerntyp, ein sogenannter „open-ended Learner“. Ihre ersten Gesangsübungen machen Jungvögel bereits in ihrem ersten Lebenssommer und feilen dann den ganzen Winter intensiv an ihren Gesängen, die sie dann im folgenden Frühjahr und Sommer zum Besten geben. Im darauffolgenden Herbst beginnen die Männchen, neue Silben einzubauen und ihren Gesang weiter zu verfeinern. Die Vögel singen also fast das ganze Jahr über, nur nur während des Federwechsels nach der Brut machen sie Pause.
Unter Ornithologen herrscht allerdings noch Uneinigkeit darüber, ob Kanarienvögel ihr gesamtes Repertoire bereits in den ersten Lebensmonaten erlernen und die verschiedenen Varianten nach und nach in ihren Gesang einbauen, oder ob sie sich jedes Jahr neue Silben aneignen können.
Der eigentlich Lernvorgang verläuft bei den meisten Singvögeln sehr ähnlich: Die Jungvögel hören zunächst zu und versuchen anschließend, das Gehörte zu imitieren. Dabei wird die vorgesungene Abfolge von Gesangssilben im akustischen Gedächtnis abgespeichert und dient als Vorlage, mit der der eigene Gesang abgeglichen wird.
Als Lehrmeister und Vorsänger dient in der Regel der Vater, es sind allerdings auch Ausnahmen bekannt, bei denen Jungtiere den Gesang von ihren Geschwistern, von anderen Vogelarten, anderen Tieren oder gar nicht-tierischen Quellen übernommen haben. Der Vogelforscher Jürgen Nicolai, der Konrad Lorenz 1957 ans Max-Planck-Institut in Seewiesen folgte, pfiff beispielsweise ein halbes Jahr lang einer Gruppe von Dompfaffen jeden Tag das Volkslied „Ein Jäger aus Kurpfalz“ vor. Nicht nur lernten die Dompfaffen das Lied nachzupfeifen, sie konnten auch ohne zu zögern weitersingen, wenn er das Vorpfeifen an einer beliebigen Stelle unterbrach.
Der Gesang eines jeden Finkens wird einzeln aufgezeichnet
In Seewiesen erforschen die Ornithologen das Gesangslernen vor allem an Zebrafinken. „Nur wenige Tiergruppen lernen überhaupt ihre Lautäußerungen. Dazu zählen neben Singvögeln und Menschen auch Elefanten, Seehunde und Wale“, sagt Gahr. Unter den vielen Singvogelarten, die ebenfalls ihre Gesänge lernen, sind Zebrafinken besonders gut als Modellorganismus geeignet, denn sie lassen sich vergleichsweise leicht halten: So sind die Vögel reine Körnerfresser, was die Fütterung in den Volieren im Vergleich zu Insektenfressern einfacher macht. Außerdem sind die Finken gesellig und können problemlos in größeren Gruppen gehalten werden.
Ein weiterer Vorteil: Zebrafinken lassen sich in Gefangenschaft sehr gut vermehren. Ein Nistkasten und etwas Material zum Nestbau reichen aus. Nach nur drei Monaten sind die Jungtiere bereits wieder geschlechtsreif. „Zebrafinken sind Opportunisten“, sagt Gahr. „Sobald es in ihrer Heimat regnet, beginnen sie zu brüten – wohlwissend, dass der Regen ein reichhaltiges Buffet an Samen und Körnern hervorbringt, wenn ihre Jungen schlüpfen.“
Gesangslernen bei Vögeln spielt sich wie das Sprachlernen beim Menschen im Gehirn ab. Das sogenannte Gesangskontrollsystem im Singvogelhirn umfasst mehrere miteinander verknüpfte Gehirnbereiche. So ähnelt das sogenannte caudomediale Nidopallium in seiner Funktion dem Wernicke-Areal beim Menschen, das für das Sprachgedächtnis zuständig ist. Der HVC (higher vocal center) im Vogel wiederum, der während des Lernvorgangs aktiviert wird, entspricht dem Broca-Zentrum im menschlichen Gehirn. Durch diese Analogien könnten die Studien der Seewiesener Forscher dazu beitragen, die Abläufe im Gehirn des Menschen beim Sprachlernen besser zu verstehen.
Für die Untersuchung des Gesangslernens müssen die Forscher wissen, welches Tier wann welche Silben und für wen singt. Deshalb ermöglichen Lisa Trost und ihre Kollegen aus Gahrs Abteilung den Zebrafinken das Leben in ihren sozialen Gruppen und nehmen gleichzeitig die Gesänge einzelner Tiere im Gruppenverband auf.
Aus diesem Grund tragen einige der Zebrafinken in der Voliere von Lisa Trost eine Art Rucksack auf dem Rücken. Sie beinhalten Mikrofonsender, die die Gesänge aufnehmen. Antennen senden die Signale der Mikrofone zu einem Computer. Andere Tiere besitzen zusätzlich Miniatursender auf dem Kopf. Diese übermitteln die elektrischen Signale von im Gehirn implantierten Elektroden, die synchron zu den Gesangsaufnahmen gespeichert werden.
Die Elektroden werden so implantiert, dass sie in bestimmte Gebiete des Gesangskontrollsystems im Gehirn des Vogels reichen. Die Tiere sind während des Eingriffs narkotisiert und erhalten Schmerzmittel. Da die Wundheilung bei Vögeln äußerst schnell verläuft, bewegen sich die Tiere schon am Abend wieder völlig normal in ihrer Gruppe.
Normalerweise verbinden Neurowissenschaftler solche Elektroden über ein Kabel mit einem Computer. Bei frei fliegenden Vögeln würden sich die Tiere durch die Kabel verheddern oder müssten alleine in einem Käfig ohne Sitzstangen leben. Deshalb haben die Seewiesener Forscher zusammen mit Technikern kleine Sender entwickelt, die die Hirnströme, Gesänge und den Herzschlag per Funk weiterleiten können. Damit können sich die Tiere frei bewegen und sich untereinander austauschen.
Mit Funksendern auf Feldversuch in der Savanne
Mittlerweile ist die Technik so weit entwickelt, dass sie sich auch in freier Natur einsetzen lässt. So haben Gahr und sein Team in der südafrikanischen Kalahari-Savanne das Singverhalten von Mahaliwebern untersucht – eine in Gruppen lebende Vogelart, bei der die dominanten Paare mit unglaublicher Präzision im Duett singen. Die exakte Abstimmung der Gesangssilben hatte das Interesse der Wissenschaftler geweckt. Mit ihren Minisendern konnten sie im natürlichen Lebensraum der Vögel simultan die Signale der Nervenzellen und die Gesänge aufnehmen und analysieren.
Das Ergebnis: Mit dem Einsatz des Partners änderte sich die Aktivität der Nervenzellen im Gehirn des anderen Vogels. Dadurch verlangsamt sich der Gesangsrhythmus, so dass sich die Partner beim Singen abwechseln können: „Der rhythmische Duettgesang der Individuen wird also durch ein akustisches Signal des Duettpartners erreicht“, erklärt Gahr. Auf diese Weise synchronisieren sich beide Gehirne, bilden eine Art Netzwerk und agieren praktisch als ein gemeinsamer Schaltkreis. Ähnliche Mechanismen könnten auch beim Menschen für die soziale Interaktion zuständig sein und so beispielsweise die Bewegungskoordination beim Paartanz regulieren, vermuten die Forscher.
Gahr und seine Mitarbeitenden haben außerdem untersucht, was im Gehirn junger Zebrafinken während der Lernphase vor sich geht, wenn diese ihr Vorbild imitieren. Dabei haben sie entdeckt, dass im HVC-Areal ein Nervenwachstumsfaktor gebildet wird, das sogenannte BDNF. Bei Säugetieren beeinflusst BDNF unter anderem die Bildung der Kontaktstellen zwischen Nervenzellen, der Synapsen. Der Wachstumsfaktor könnte also im HVC die Ausprägung lokaler Schaltkreise beeinflussen.
Doch nicht nur hormon-abhängig gebildete Wachstumsfaktoren beeinflussen die Hirnaktivität während der Lernphasen. „Ohne Sexualhormone entwickelt sich das Gesangssystem überhaupt nicht“, erklärt Gahr. Lange Zeit interessierten sich Forscher ausschließlich für das männliche Sexualhormon Testosteron. Dieses Dogma herrschte auch noch, als Manfred Gahr Doktorand war – damit wollte dieser sich jedoch nicht abfinden: „Testosteron lässt sich im Gehirn in Östrogen umwandeln, eigentlich ein weibliches Sexualhormon. Deshalb habe ich mir angeschaut, was dieses Östrogen eigentlich macht.“
In den 1980 Jahren begannen Krebsforscher, mit Hilfe von Antikörpern den Einfluss von Östrogen auf die Tumorbildung zu untersuchen. Gahr machte sich das Verfahren zunutze und konnte dadurch erstmalig nachweisen, dass in den Gesangsarealen des Vogelhirns Östrogen-Rezeptoren vorhanden sind. Bei der Gesangsentwicklung von Vögeln müssen folglich sowohl Testosteron als auch Östrogen eine Rolle spielen. „Im Gehirn spielen bei beiden Geschlechtern sowohl „männliche“ als auch „weibliche“ Hormone eine große Rolle. Bei den jungen Zebrafinken wirkt der Wachstumsfaktor BDNF wie Östrogen und erleichtert das Lernen von Gesängen“, erklärt Gahr.
Deshalb also lassen sich auch Weibchen vieler Arten mit Testosterongaben zum Singen animieren. Jüngste Studien an Kanarienvogelweibchen zeigen, dass dies wohl auch bei natürlicherweise singenden weiblichen Singvögeln auf erhöhte Testosteron-Produktion zurückzuführen ist.
Warum die Gesänge der Vögel nicht komplett angeboren sind und sie sie lernen müssen, ist noch unklar. Das Gesangslernen könnte der Artenbildung dienen oder über die Herkunft des Sängers informieren. Da der Gesang bei vielen Arten der Partnerwahl und der Revierverteidigung dient, können Weibchen die Männchen mit einem anderen Gesang wählen als den, den sie in ihrer Jugend gehört haben. Benachbarte Revierinhaber wiederum können einen Eindringling daran erkennen, dass dieser einen anderen Dialekt singt. Darüber hinaus hilft vokales Lernen bei der Kommunikation innerhalb einer Vogelfamilie und erleichtert die Entstehung komplexer Gesangsstrukturen wie Duette oder Gruppengesänge.
Auf den Punkt gebracht:
- Wie bei den meisten einheimischen Singvögeln singen auch bei den Zebrafinken nur die Männchen. Ihren Gesang müssen sie jedoch erst lernen.
- Gesteuert wird dieser Lernvorgang im Gesangssystem im Gehirn der Finken. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die Sexualhormone Testosteron und Östrogen.