Achterbahn über den Himalaya
Streifengänse (Anser indicus) folgen bei ihrem Flug über den Himalaya dem Relief des Gebirges.
Dadurch müssen sie für einen kleinen Nettogewinn an Höhe wiederholt mehrere tausend Meter aufsteigen und wieder absinken. Trotzdem sind die Energiekosten für die Tiere bei dieser Art des Achterbahn-Fluges geringer als wenn sie konstant in großer Höhe fliegen würden. Zu diesem Ergebnis kommt eine internationale Forschergruppe unter Beteiligung von Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell. Diese Forschung ist Teil der Vorbereitung für das Icarus-Projekt. Damit wollen die Wissenschaftler ab 2016 die globalen Wanderbewegungen von Tieren mit Satelliten beobachten.
Streifengänse sind unerschrockene Zugvögel, denen kein Hindernis zu groß ist. Zweimal pro Jahr überqueren sie das höchste Gebirge der Welt. Wie genau die Gänse diesen Flug bewältigen, war bisher unklar. Eine gängige Theorie besagt, dass die Vögel kontinuierlich an Höhe gewinnen, die höchsten Gipfel überqueren und dann stetig wieder absinken. Neue Messungen zeigen jedoch, dass die Gänse immer entlang des Reliefs der Gebirgskette fliegen.
„Als Drachenflieger habe ich mit einer solchen Flugbahn gerechnet. Nicht-Flieger waren da erstmal skeptisch“, kommentiert Martin Wikelski das Ergebnis, Direktor am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell. Die Erklärung liefert er gleich mit: Nahe am Hang herrschen die verlässlichsten Aufwinde, von denen sich die Gänse nach oben tragen lassen. Das ist viel einfacher, als in konstanter Höhe ein Tal zu überqueren. „Die Gänse im Himalaya machen das so wie wie jeder Drachenflieger in den Alpen“, sagt der Forscher, der auch das internationale Icarus-Konsortium leitet.
Eine der beobachteten Gänse stieg beispielsweise für einen Nettohöhengewinn von nur 1390 Metern zuerst 6340 Meter auf und sank dann wieder um 4950 Meter nach unten. Was auf den ersten Blick wie unnötige Anstrengung aussieht, ist in Wahrheit der einfachere Weg: Die Gänse sparen mit dieser Strategie durchschnittlich acht Prozent der Energiekosten, denn in großer Höhe ist die Luft dünner und die Tiere müssen öfter mit den Flügeln schlagen. Das ist anstrengender als der erhöhte Energieverbrauch bei häufigen Anstiegen. Schon wenn die Flügelschlagfrequenz nur um fünf Prozent zunimmt, steigt die Herzschlagrate um 19 Prozent und der Energieverbrauch schnellt um ganze 41 Prozent nach oben.
Für ihre Untersuchung statteten die Forscher sieben Gänse mit GPS-Sendern aus. Außerdem überwachten sie mit winzigen Messegeräten die Körpertemperatur sowie Herz- und Flügelschlag. Insgesamt konnten sie somit fast 400 Stunden Vogelzug quer über das Dach der Welt auswerten.
Die Streifengänse treten zweimal im Jahr diese lange Reise an. Im Sommer brüten die Tiere in Tibet, China und der Mongolei. Den Winter verbringen sie in Indien, Pakistan, Bangladesch. „Es ist im Süden nicht nur wärmer, die Tiere finden dort auch mehr Nahrung“, erklärt Wikelski. „Und wie wir jetzt wissen, ist die Überquerung des Himalaya für die Gänse einfacher als bisher angenommen.“
An dem Projekt waren auch Wissenschaftler aus Großbritannien, Kanada, der Mongolei, Australien, Italien und den USA beteiligt. „Es war ein großes internationales Kooperationsprojekt. In dieser Form werden in Zukunft viele ökologische Projekte ablaufen“, sagt Wikelski. Auch an ICARUS sind weltweit Dutzende Wissenschaftler beteiligt. Mit dem satellitengestützten System sollen vom nächsten Jahr an die Wanderungsbewegungen vieler Tiere gleichzeitig aufgezeichnet und physiologische Daten gesammelt werden. Die Messungen sollen neue Erkenntnisse über das Verhalten von Tieren, die Ausbreitung von Erkrankungen oder die Vorhersage von Naturkatastrophen liefern.
HR