Gesangslernen in Zeitraffer
Später geschlüpfte Kanarienvögel lernen ihren Gesang ähnlich gut wie früher geborene Artgenossen
Die meisten Singvögel lernen ihren Gesang von ihrem Vater oder anderen Männchen. Wie genau der Lernprozess bei den Jungtieren in einer natürlichen Umgebung abläuft, ist jedoch weitgehend unbekannt. Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen haben die gelernten Gesänge von Kanarienvögeln verglichen, die am Anfang oder am Ende der Brutzeit schlüpfen. Die früh geschlüpften Vögel konnten sich beim Lernen ihres Gesangs an vielen erwachsenen Vorbildern orientieren, die später geschlüpften Kanarien besaßen dagegen nur wenige oder überhaupt keine Gesangsvorbilder. Es zeigte sich, dass beide Gruppen bereits im Herbst gleich gut sangen. Offenbar lernen die bis zu drei Monate später geschlüpften Vögel ihren Gesang schneller als die früher geschlüpften Tiere.
Junge Singvögel lernen ihren Gesang in zwei Phasen, wobei sie im ersten Schritt den Gesang eines erwachsenen Tieres hören, ihn sich merken und abspeichern. Danach üben sie den Gesang solange, bis er dem gespeicherten Vorbild möglichst nahe kommt. Die Dauer dieser Phase variiert sehr stark zwischen den Arten und auch die Anzahl der Gesänge, die ein Vogel in seiner Jugendphase hören muss, kann sich erheblich unterscheiden. Von Vorspielexperimenten an Nachtigallen weiß man, dass nur wenige Gesänge genügen, damit ein Jungvogel später einigermaßen gut singen kann. Jedoch sind die genauen Umstände noch relativ unbekannt, unter denen sich Gesang in einer natürlichen Umgebung entwickelt.
In unseren Breiten hören junge Singvögel am Anfang der Brutzeit im März viele erwachsene Männchen singen, die damit die Weibchen und auch ihre Rivalen beeindrucken wollen. Gegen Ende der Brutzeit singen sie weniger oder stellen den Gesang ganz ein. Es könnte also sein, dass die Jungvögel, die am Ende der Brutzeit schlüpfen, als Erwachsene anders singen, da sie in ihrer wichtigen ersten Gesangslernphase so gut wie keinen Gesang hören.
Wissenschaftler aus der Abteilung Verhaltensneurobiologie vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen haben nun an Kanarienvögeln untersucht, ob sich die Gesänge von früh und spät in der Brutzeit geschlüpften Vögeln unterscheiden. In einer großen Voliere mit mehr als 60 Kanarien haben die Forscher zunächst die Gesangsaktivität der Altvögel während der Brutzeit über einen Zeitraum von vier Monaten bestimmt. Demnach sangen die Vögel gegen Ende der Brutzeit deutlich weniger, ab Ende Juli war gar kein Gesang mehr zu hören.
Die Forscher teilten die aus der Brutzeit hervorgegangenen Jungvogel-Männchen nun in zwei Gruppen aus früh und spät geschlüpften Tieren ein und nahmen deren Gesänge im Herbst und im darauffolgenden Frühjahr auf. Dabei zeigte sich ein überraschendes Ergebnis: Sowohl im Herbst, als die heranwachsenden Jungtiere noch einen sogenannten plastischen Gesang besaßen, als auch im darauffolgenden Frühjahr als Erwachsene, unterschieden sich die Gesänge bei beiden Gruppen nicht voneinander. Die Gesänge in Herbst und Frühjahr unterschieden sich jedoch ähnlich wie bei den erwachsenen Vögeln. Das gleiche Muster wurde beim Geschlechtshormon Testosteron gefunden, das manche für die Brutzeit wichtige Gesangsparameter beeinflussen kann.
“Die Ergebnisse deuten auf eine beschleunigte Gesangsentwicklung der spät in der Brutzeit geschlüpften Tiere hin. Sie zeigen weiter, dass eine reduzierte Verfügbarkeit von Tutoren keinen wesentlichen Einfluss auf die Gesangsentwicklung besitzt“, sagt Johanna Teichel, eine der Autorinnen der Studie. “Es kann aber auch sein, dass die Jungvögel nicht unbedingt über einen längeren Zeitraum den Gesang der Erwachsenen hören müssen, sondern dass es wichtig ist, diesen zu bestimmten Zeitpunkten wie zum Beispiel kurz vor Ende der Gesangslernphase im Herbst zu hören, wenn die Vorbilder wieder anfangen zu singen“, sagt Cornelia Voigt, Letztautorin der Studie.
SL/HR