Gegen den Strom
Wie Fische ihre Position in einer gleichbleibenden Strömung erkennen und halten
Lange Zeit war unklar, wie Fische selbst im Dunkeln ihre Position in einer gleichbleibenden Strömung zuverlässig halten können. Wissenschaftler der Harvard University und des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie identifizieren nun das Seitenlinienorgan als essentielles Sinnesorgan, mit dem Zebrafischlarven ein mögliches Abdriften erkennen können. Das Team beschreibt die genauen Algorithmen, die diese Sinnesinformation in die entsprechenden motorischen Befehle umwandelt. Es zeigt sich, dass lokale Flussgradienten, also kleinste Unterschiede im Wasserfluss zwischen der rechten und der linken Körperseite, entscheidend für eine korrekte Navigation ist.
Um Hirnfunktionen wirklich zu verstehen, müssen sich Wissenschaftler das Gehirn auf zwei Ebenen anschauen. Das ist zum einen die Ebene der Verhaltensalgorithmen und zum anderen die Ebene der neuralen Umsetzung. Salopp könnten die Kernfragen der Ebenen übersetzt werden als „Was genau macht das Gehirn?“ und „Wie macht das Gehirn das, was es macht?“ Wissenschaftler nehmen an, dass das Gehirn Algorithmen verwendet – zum Beispiel für das Verarbeiten von Sinneseindrücken, die Entscheidungsfindung oder die motorische Kontrolle. Durch eine genaue Beobachtung der ursächlich relevanten Verhalten sollte es möglich sein, diese Algorithmen abzuleiten. Sobald ein bestimmter Algorithmus verstanden und beschrieben ist, können Wissenschaftler dann die neuralen Umsetzungen analysieren, indem sie die zugrundeliegenden Nervenzellschaltkreise im entsprechenden Verhaltenskontext untersuchen und manipulieren.
Solch einen verhaltensrelevanten Algorithmus haben nun Florian Engert von der Harvard University (USA) und Ruben Portugues vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie mit ihren Teams entdeckt. Die Forscher wollten herausfinden, wie eine Zebrafischlarve das Vorhandensein einer Strömung erkennt und effektiv dagegen anschwimmt, um ihre Position zu halten. Diese Orientierung von Lebewesen an der Gewässerströmung wird Rheotaxis genannt. Was eigentlich ganz simpel klingt, gibt Forschern schon seit Langem Rätsel auf. Denn ein Fisch, der in einem gleichmäßig fließenden Gewässer schwimmt, sollte im Dunkeln nicht unterscheiden können, aus welcher Richtung die Strömung kommt und daher weggespült werden. Vergleichbar ist es in einem Zug, der mit gleichbleibender Geschwindigkeit fährt, mit geschlossenen Augen nicht möglich zu sagen, in welche Richtung der Zug fährt oder ob er überhaupt fährt. Doch der Fisch bleibt auch nachts auf der Stelle – wie macht er das?
In ihrer Arbeit identifizierten die Wissenschaftler das Seitenlinienorgan als eines der wichtigsten Sinnesorgane für die Rheotaxis. Die Seitenlinienorgane der Fische bestehen aus einer dichten Ansammlung von Haaren, die lokale Änderungen im Wasserfluss erkennen können. Zebrafischlarven schwimmen in Perioden von 250 Millisekunden, zwischen denen sie jeweils für eine Sekunde ruhen. Die Forscher konnten zeigen, dass die Fische in den Ruhepausen eine Art Momentaufnahme des kleinen Rundflusses um ihren Körper aufnehmen, der durch die lokalen linearen Strömungsflussgradienten entsteht. „Wenn wir das Seitenlinienorgan am Fischschwanz störten, konnten die Fische die Anwesenheit einer Strömung nicht mehr fühlen und zeigten keine Rheotaxis mehr – sie sind abgedriftet“, erklärt Pablo Oteiza, der Erstautor der Studie. Seine Kollegin, Iris Odstrcil, ergänzt: „Indem der Fisch diesen Flussgradienten vor und nach einer Schwimmperiode misst, kann er effektiv berechnen, wie sich der Gradient durch sein Schwimmen verändert hat und dann sein Verhalten entsprechend anpassen.“ Aufbauend auf diese Ergebnisse gelang es den Wissenschaftlern die genauen Algorithmen zu beschreiben, die die Sinnesinformationen der Seitenlinienorgane in die entsprechenden motorischen Befehle umwandelt. Computersimulationen bestätigten, dass der recht einfache Algorithmus tatsächlich das Rheotaxis-Verhalten hervorrief, das die Forscher experimentell beobachtet hatten.
„Seitenlinienorgane werden als Sinnesmodalität häufig übersehen, da wir Menschen selbst keins haben und uns so der Bezug zu ihnen vielleicht schwerfällt“, überlegt Ruben Portugues. „Aber wie wir sehen, sind sie extrem interessant!“ Der Fisch muss die Information der verschiedenen Haarzellen um seinen Körper herum in jedem Zeitfenster zusammenfassen und daraus eine Einschätzung nicht des Flusses, sondern des Flussgradienten berechnen. „Im Grunde berechnet er ein Vektorintegral, merkt sich das Ergebnis, führt es aus und vergleicht es mit dem neuen Integral – das ist erstaunlich!“ ergänzt Florian Engert. Nach dieser spannenden Einsicht wollen die Forscher nun herausfinden, wie das Fischgehirn diese Berechnungen durchführt.